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Monday, 05. June 2023 - 13:57

Wie können Lebensmittel, die den heutigen gesellschaftlichen und ökologischen Herausforderungen gerecht werden, mithilfe nachhaltiger und innovativer Verfahren entwickelt und hergestellt werden? Diese Herausforderungen, mit denen sich der Bachelorstudiengang Life Technologies und das gleichnamige Institut der Hochschule für Ingenieurwissenschaften konfrontiert sehen, werden nachstehend anhand von vier Beispielen illustriert.  

Die Ernährung ist eine der grössten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Einerseits muss eine wachsende Bevölkerung ernährt werden, die bis 2050 voraussichtlich auf 9.7 Milliarden Menschen ansteigen wird. Andererseits müssen nachhaltige Herstellungsprozesse entwickelt werden, die den aktuellen ökologischen Anforderungen Rechnung tragen. Diese zweifache Herausforderung steht im Mittelpunkt des Unterrichts in der Vertiefung Lebensmitteltechnologie und der Aktivitäten des Forschungsschwerpunkts Sustainable Food Systems. 

Verschiedene Themenbereiche werden untersucht: die Nutzung pflanzlicher Proteine als Fleischersatz, die Berücksichtigung der Lebenszyklusanalyse bei der Entwicklung neuer Produkte, neue, von Alpenpflanzen als Folge des Klimawandels produzierte Moleküle und die Auswirkungen neuer Lebensmittel auf unsere Darmflora, d. h. die Gesamtheit der dort lebenden Mikroorganismen.

 

  

 

1. Walliser Alpenpflanzen: zwischen Tradition und Innovation

Früher wurden Alpenpflanzen für die Heilung von Menschen und Tieren verwendet. Abgesehen von  einigen Frauen im Wallis, die diese Traditionen bewahrt haben, ist dieses Wissen mit dem Aufkommen industrieller Medikamente verlorengegangen. 

Der Klimawandel hat dazu geführt, dass Pflanzen neue Moleküle entwickeln, die bisher unerforschte gesundheitsfördernde Wirkungen für den Menschen haben können. Aus diesem Grund begeben sich die Forschenden des Instituts Life Technologies, darunter das Team um Dr. Bruno Schnyder, sowie Forschende des Standorts Conthey (Médiplant, Agroscope, Phytoark) einmal pro Jahr in die Berge, um Alpenpflanzen zu sammeln. 

Labortests, in deren Rahmen Organe und Körperfunktionen simuliert werden, ermöglichen die Identifikation von Pflanzenextrakten mit wohltuenden Wirkungen für den Menschen. Diese Pflanzen werden dann an einem Ort im Wallis, an dem es keine Umweltverschmutzung gibt, im grossen Massstab angebaut. Anschliessend kommen die Industriepartner der HES-SO Valais-Wallis ins Spiel. Diese haben schon mehrere Patente erfolgreich angemeldet und Pflanzenextrakte mit infektionshemmenden Wirkungen und zur Vorbeugung chronischer Entzündungen vermarktet. 

Diese Naturprodukte bieten neue Behandlungsmöglichkeiten und werden als Nahrungsergänzungsmittel angeboten oder als Kosmetika vermarktet. Es kann sogar sein, dass gewisse dieser Produkte als Phytopharmaka zur Heilung von Krankheiten auf den Markt kommen werden.  

 

 

2. Unsere Darmflora und die neuen Lebensmittel

Parallel zur Entwicklung unserer Umwelt wird sich auch unsere Ernährung verändern. Aus diesem Grund werden Insekten, Algen und gewisse Samen für die Forschung und auch die Industrie immer attraktiver. 

So benötigen zum Beispiel Grillen sechsmal weniger Futter als Rinder, viermal weniger als Schafe und zweimal weniger als Schweine und Masthühner, um die gleiche Menge an Proteinen zu erzeugen. Weiter sind Mikroalgen vielversprechende neue Quellen für präbiotische Substanzen, da sie Polysaccharide enthalten. Leinsamen wiederum gelten als reiche Quelle an Vitaminen, Mineralstoffen, Proteinen und Ballaststoffen mit einer lipidsenkenden, antiatherogenen, cholesterinsenkenden und entzündungshemmenden Wirkung.

Welchen Einfluss werden diese neuen Lebensmittel auf unsere Darmflora haben? Während die Verträglichkeit von Insekten bereits eingehend untersucht wurde, sind Studien über die Veränderung der Darmflora infolge des Konsums von Insektenproteinen, Mikroalgen und Leinsamen weitaus seltener. Dr. Wolfram Brück und sein Team beschäftigen sich im Rahmen mehrerer Projekte mit diesem Thema.  

 

3. Pflanzliche Proteine

Der Wunsch nach einer gesunderen Ernährung und die Nachfrage nach Lebensmitteln, die nachhaltig und ethisch hergestellt werden, werden immer grösser. Die Bedeutung von Alternativen zu Fleisch und Milchprodukten steigt zunehmend, unter anderem aufgrund der geringeren CO2-Belastung und des geringeren Wasserbedarfs.

Das Team um Dr. Michael Beyrer arbeitet hauptsächlich mit proteinreichen Hülsenfrüchten und Algen, mit dem Ziel, eine nachhaltigere Wertschöpfungskette aufzubauen (Art des Anbaus, Transport, Verarbeitung und Zubereitung). „Wir beherrschen diese Verarbeitung und verändern den Prozess selektiv durch vereinfachte Strategien zur Proteinextraktion und durch ein neues, patentiertes All-in-one-Verfahren zur Herstellung von Fleisch- und Käseersatzprodukten“, erklärt Beyrer.

Wie bei der Mobilität oder der Energieerzeugung kann ein technologischer Durchbruch dazu beitragen, die Umweltauswirkungen der Landwirtschaft und der Lebensmittelindustrie zu verringern. „Auf diese Weise vermeiden wir die Nutzung von Tieren als Biofabriken, die Sojakonzentrate in Milch und Fleisch umwandeln und unsere übernutzte Natur belasten“, fügt er hinzu. 

Die Automatisierung und ein industrieller Ansatz sind für die Rentabilität einer neuen Technologie unerlässlich. Die lokale Wirtschaft benötigt kompakte und intelligente technische Lösungen. Auf diese Weise wäre es möglich, auf die globalen Märkte zu verzichten, um die Verarbeitungskosten niedrig zu halten und trotz geringerer Produktionsmengen eine hohe Produktqualität zu erreichen. 

 

 

 

4. Lebenszyklusanalyse für nachhaltige Produkte  

Die Weltbevölkerung wird im Jahr 2050 auf fast 10 Milliarden Menschen wachsen. Parallel dazu nimmt der Fleischkonsum in den Entwicklungsländern fortlaufend zu. Um dieser steigenden Nachfrage Rechnung tragen zu können, muss auch die Nahrungsmittelproduktion angekurbelt werden.

Dies wird jedoch entsprechend negative Auswirkungen auf die Umwelt haben: Verlust der Biodiversität aufgrund einer Umnutzung der Böden, Treibhausgasemissionen und Nährstoffbelastung. Um diese Auswirkungen zu bewältigen, ist eine systemische Veränderung des derzeitigen Agrarwirtschaftssystems erforderlich. Die Lebenszyklusanalyse, auch Ökobilanz genannt, kann sich als hilfreich erweisen, um rationale, faktenbasierte Entscheidungen betreffend die Entwicklung von Lebensmitteln zu treffen.

Es handelt sich dabei um eine standardisierte wissenschaftliche Methode zur Quantifizierung und Analyse der Umweltauswirkungen eines Produkts über die gesamte Lebensmittelproduktionskette hinweg. Der vollständige Lebenszyklus eines Lebensmittelprodukts wird berücksichtigt: Rohstoffe, Verpackung, Verarbeitung, Vertrieb, Verbrauch und Abfallentsorgung. Der Einfluss jeder dieser Phasen auf die Umwelt wird berechnet. 

Die Ökobilanz ist daher ein wertvolles Werkzeug für die Entwicklung nachhaltiger Lebensmittelprodukte, deren Auswirkungen über den gesamten Lebenszyklus hinweg reduziert werden. 

 

Sandra Galle, Dozentin für Lebensmitteltechnologie und Fachfrau für die Entwicklung von nachhaltigen Lebensmittelprodukten