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Monday, 21. November 2022 - 07:51

Während zwei Jahren hat die COVID-Krise unser Leben durcheinandergebracht und die Art und Weise, wie wir uns definieren, verändert. Wird diese ungewollte Auszeit dauerhafte psychologische oder soziale Folgen haben? Ein Gespräch mit Sabrina Alberti, Psychologin und Dozentin an der HES-SO Valais-Wallis.



Wird die COVID-Krise langfristige psychologische Auswirkungen haben? 

Ja, wir sehen die ersten Anzeichen dafür. Ich habe vermehrt Patienten und Patientinnen zwischen 16 und 18 Jahren aus dem Gymnasium, die vielleicht das Jahr nicht bestehen. Sie kommen zu mir aufgrund von Problemen wie Stress und Erschöpfung, aber vor allem auch mit der Frage nach dem Sinn. Weshalb studieren in einer Welt, die keinen Sinn ergibt? 

An der HES-SO Valais-Wallis ist die Situation etwas anders, da die Studierenden hier älter sind und eine konkrete, berufsbefähigende Ausbildung absolvieren. 

Weshalb stellt sich diese Frage nach dem Sinn in Ihren Beratungen immer wieder?

Die jungen Leute, die meine Praxis aufsuchen, haben den Bezug zu den Ausbildungen und insbesondere den Berufen, zu denen sie führen, verloren. Die soziale Isolation während der COVID-Krise war sicherlich ein Auslöser, doch die Ursache dieses Sinnesverlustes liegt tiefer.

Wir verkaufen ihnen einen Lebensstil, der nicht mehr vertretbar ist. Wenn ich diese Jugendlichen vor mir habe, muss ich zugeben, dass ich mich ihnen gegenüber nicht mehr glaubwürdig fühle. 

Können die Jugendlichen ausdrücken, was ihnen fehlt, oder handelt es sich um ein vages Gefühl?  

Ich habe den Eindruck, dass sie sich sehr einsam fühlen. Man kann es beschreiben als eine soziale Verletzung, eine Generationenverschiebung. Die Diskussion, die wir jetzt führen, können sie selbst oft nicht führen. Vielleicht finden sie nicht den richtigen Gesprächspartner. 

Was kann ein Kollegium oder eine Hochschule tun, damit die Jugendlichen wieder einen Sinn im Leben sehen?

Der Unterricht und die pädagogische Haltung könnten stärker auf das Gemeinschaftsgefühl und das Zusammenleben ausgerichtet werden. Wir sollten noch mehr Wert auf die Arbeit in der Gruppe legen, indem wir Projekte vorschlagen, die die zahlreichen Möglichkeiten aufzeigen, die ihnen offenstehen.   

Was geben Sie ihnen mit auf den Weg?

Ich fordere sie auf, mehr Offenheit zu zeigen als die Erwachsenen in ihrer Umgebung. Vor allem aber sollen sie die Fähigkeiten und Kenntnisse, die mit ihren Nebenaktivitäten verbunden sind, entwickeln. Diese zusätzlichen Fähigkeiten tragen zur Kompetenzbildung bei.

Ich messe auch dem inneren Veränderungsprozess grosse Bedeutung bei, da dieser das Potenzial für einen kollektiven Veränderungsprozess darstellt. Oder gemäss Gandhi: „Sei die Veränderung, die du in der Welt sehen willst“.

Hängt das mit dem Streben nach Erfolg zusammen?

Der Stellenwert des Erfolgs ist eines der Elemente, die sich in unserer Gesellschaft sicherlich verändern werden. In einem wenig sinnbringenden Job viele Stunden zu arbeiten, wird die Menschen dazu bringen, sich neu zu positionieren und zu überlegen, was sie wirklich wollen. Einige von ihnen werden weniger arbeiten wollen oder für Initiativen, die in ihren Augen sinnvoll sind. Sie würden zwar weniger verdienen, dafür aber mit einem Lächeln aufwachen und Zeit für ihre Kinder haben. Vielleicht wird man dann nicht mehr von Erfolg sprechen, sondern von Wohlbefinden.

Wird es eine Generation COVID geben?

Dies lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, aber ich denke schon. Einige wurden von dieser Krise überfordert und ihre Sozialkompetenzen haben darunter gelitten. Andere hingegen entwickelten angesichts der Herausforderungen viel Einfallsreichtum. 

Psychologisch gesehen ist es unwichtig, welchen Weg man einschlägt: Wer eine schwierige Situation meistert, hat das Potenzial, neue Richtungen einzuschlagen, was viel wichtiger ist, als in seiner Komfortzone zu verharren. 

Haben schwierige Zeiten also auch positive Auswirkungen?

Natürlich, ich beobachte das jeden Tag bei meinen Patientinnen und Patienten. Situationen, die mit grossen Unsicherheiten, Einsamkeit oder Krankheit verbunden sind – so wie während der COVID-Krise – können auch Auslöser für eine Infragestellung sein, dank der die Betroffenen einen Ausweg finden.